Plattenhören auf dem Barhocker

Warst Du schon bei Engelmann?“ – die Frage raunten sich gegen Ende der 1970er Jahre Plattensammler meines Genres auf Ruhrgebietsbörsen zu. Dem Laden in der Düsseldorfer Altstadt eilte damals der Ruf einer besonderen Fundgrube voraus.

Engelmann verkörpert das typische Elektrogeschäft der 1950er und frühen 1960er Jahre: Hier gibt es woanders längst nicht mehr erhältliche Glühlampen mit seltenen Fassungen, Kleingeräte, Bügeleisenschnüre, Wasserkocher, Heizlüfter, Ventilatoren – und Schallplatten.

Radio Engelmann in der Kasernenstraße 21 existiert immer noch. Wer den Laden im Nierentisch-Ambiente betritt, sieht sich in eine andere Welt versetzt: Barhocker, Vorführtheken mit Stielhörern und Grabbelfächer mit 45er Singles

Barhocker und Stielhörer: Selbst eine Düsseldorfer Tageszeitung interessierte sich für das sonderbare Einzelhandelsgeschäft – gegründet wurde es allerdings schon 1925. Man beachte die schmiedeeisernen Dekorationen im Fünfziger-Jahre-Stil links über dem Fenster – Gitarre, Schlagzeug, Saxofon

Stil der 50er: Eine Wespe, die ihren Stachel rücklings in die Rille einer Schallplatte senkt, ist Firmenlogo von Radio Engelmann

Noch ein Elektrogeschäft jener Zeit, in dem man auch Schallplatten kaufen konnte. Ganz typisch das Verkaufspersonal in weißen Mänteln mit Kugelschreiber in der Brusttasche hinter dem Ladentisch

Bei Engelmann standen selbst am Ende der 1970er Jahre – das war die heiße Nachricht auf den Plattenbörsen – noch jede Menge Ten-Inch-LPs in den Regalen.

Die große Zeit der Langspielplatten mt 25 cm Durchmesser – gegenüber der 30 cm-LP die erschwinglichere Alternative – waren die Fünfziger. Diese so genannten Ten-Inch-Platten, deren Produktion 1967 auslief, sind heute begehrte Sammelobjekte – vorausgesetzt, es befindet sich die richtige Musik darauf. Und „richtig“ – das hieß für mich etwa Chuck Berry oder Little Richard.

Plattensession in Solingen: Lothar Mackenbach (Zweiter von rechts) mit seiner Frau Karin und zwei Sammlerfreunden aus dem süddeutschen Raum. Das Foto entstand 1979

Sobald etwas nach Ten Inch riecht, gehen die Preise hoch“, pflegte mein Solinger Plattenfreund und Bill-Haley-Sammler Lothar Mackenbach über das Format zu klagen. Auf seinem Interessengebiet gibt es eine ganze Reihe von Ten-Inch-Schallplatten, deren Wert heute im dreistelligen Bereich liegt. Gleiches gilt für bestimmte 45er Singles und Extended Plays.

Man beachte die große Sammlung von Kleinplatten in Lothars Regalen. Pop- und Rockmusik auf 30-Zentimeter-LPs spielte vor 1965 kaum eine Rolle. Zum Hören von 45er Singles und EPs, die wegen ihrer kurzen Spieldauer von maximal vier beziehungsweise acht Minuten häufig gewechselt werden müssen, ist der Thorens TD 124 dank laufwerkschonender Kupplung und dem bequem versenkbaren Mittelstück geradezu ideal.

Eigentlich – denn wie die meisten Rock ’n‘ Roll-Sammler hatte auch mein Solinger Kumpel kein Interesse an HiFi-Technik. Als Lothar einen Plattenspieler mit 78 U/min für seine ultrararen Schellacks suchte, diente ich ihm meinen Thorens TD 126 in der seltenen, nur 1974/75 produzierten Mark-I-Version zum Freundschaftspreis an. Doch nein – als Karin von den Abmessungen erfuhr, fiel die Entscheidung zugunsten eines kompakten TD 170 mit 150-Gramm-Plattenteller.

Günter Tollhammer aus Wien wusste die Vorzüge einer Tellerkupplung für das komfortable Abspielen von Singles und EPs zu schätzen. Seinen Thorens TD 124/II mit SME-Tonarm 3009/II hat der Rock ’n‘ Roll-Liebhaber in eine maßgefertigte Truhe mit Staubdeckel eingebaut. Links neben dem Spieler zwei in das Pult eingelassene Fächer für die am meisten gehörten Kleinplatten

Zurück zu Radio Engelmann: Auch ich machte mich also auf in die Kasernenstraße, um vielleicht die eine oder andere Scheibe von Elvis oder Fats Domino auszugraben. Und da standen sie nun in Reih und Glied – die begehrten Ten-Inch, wohl 400 an der Zahl. Rückstände abgelöster Sticker auf den Hüllen verrieten, dass die Ladenhüter wohl öfters, der aktuellen Entwicklung folgend, neu bepreist wurden. Bei sorgfältiger Durchsicht der Scheiben wurde mein Gesicht aber lang und länger. Es handelte sich fast ausschließlich um Operettenaufnahmen – Gräfin Mariza, Försterchristl, Im weißen Rößl, Wiener Blut.

Ich weiß nicht, wie viele meiner Sammlerkollegen für die Durchsicht der Operettenplatten Zeit verschwendet haben und Engelmann frustriert wieder verließen. Ich aber habe wegen des interessanten Plattenformats und als Andenken an die besondere Atmosphäre im Radiogeschäft doch zwei Ten Inch gekauft – die eine von Jazzmusiker Teddy Stauffer, die andere die nachfolgend abgebildete Columbia-LP. Die musste ich allein schon wegen des wunderschönen Fünfziger-Jahre-Covers mitnehmen …

Freddie Brocksieper (1912-1990) gilt als Hauptfigur des frühen europäischen Bigband-Jazz. Nach dem Zweiten Weltkrieg spielte er auch in amerikanischen Offiziersklubs. Der Bandleader mit seinen „Boys“ und einer farbigen Sängerin – in bürgerlichen Kreisen damals anstößig – brachte es sogar auf die Titelseite von Stars and Stripes, der Zeitung der US-Streitkräfte

Was nur wenige Schallplattenfreunde wissen: Die LP wurde zwar schon 1948 von Dr. Peter Goldmark erfunden. Vinylplatten hatten aber in den ersten Jahren wie Schellacks auschließlich 25 Zentimeter (zehn Zoll) oder – beim Rundfunk – 40 cm (sechzehn Zoll) Durchmesser. Das heute gebräuchliche 30-Zentimeter-Format (zwölf Zoll) – ein Kompromiss zwischen Spieldauer und Handlichkeit – wurde erst 1955 eingeführt.

Hier präsentiere ich eine 16-Zoll-LP des US-Soldatensenders AFN aus meiner Sammlung – ideales „Futter“ für Rundfunkplattenspieler mit 40-cm-Teller wie EMT 927 oder Rek-O-Kut B-16 H

Die Riesenscheibe lässt sich aber auch auf einem Garrard 301 mit SME 3012 oder Ortofon 309 abspielen. Garrard deshalb, weil bei den Modellen 301 und 401 die 40-cm-Platten auf einem vergleichsweise hohen Teller liegen und man dadurch die von der Großschallplatte verdeckten Bedienungselemente noch erreichen kann. Beim Thorens TD 124 mit seinem deutlich niedrigeren Teller ist dies nicht möglich.

Arbeitstier bei den Rundfunkanstalten war der EMT 927, von dem in 20 Jahren nur 800 Exemplare gebaut wurden. Im harten Studiobetrieb – 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche, 365 Tage im Jahr – erwies sich diese Abspielmaschine als äußerst robust und zuverlässig. Liebhaberpreise heute fünfstellig